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Was die Corona-Krise mit der digitalen Identität zu tun hat

Was die Corona-Krise mit der digitalen Identität zu tun hat
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Red. – Bei der Volksabstimmung im März 2021 gab es ein klares Nein zu einer elektronischen ID, die durch private Firmen verwaltet wird. Nun decken die beiden Journalistinnen Serena Tinari und Catherine Riva in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Journalisten Jannes van Roermund auf, wie «mächtige kommerzielle und staatliche Akteure bestrebt sind, das Covid-19-Zertifikat in einen digitalen Identitätsnachweis (e-ID) umzuwandeln». «Unsere Recherche zeigt, dass diese Verschiebung bereits im Gange ist und einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel herbeiführt, welcher eine dringende gesellschaftliche Debatte erfordert.» Das schreiben Tinari und Riva auf ihrer Website Re-Check, wo der Text zusammen mit Belegen nachzulesen ist. Den beiden Re-Check Gründerinnen wurde die Aufzeichnung eines Zoom-Meetings zwischen Regierungsvertretern und Akteuren, die an der Einführung des Schweizer COVID-Zertifikats beteiligt sind, zugespielt. Um die Diskussion anzustossen, veröffentlicht Infosperber die dreiteilige Serie leicht gekürzt. Hier der zweite Teil:

Die digitale Identität (e-ID oder elektronische Identität) ist eine digitale Lösung, die es Bürgern ermöglicht, ihre Identität zu beweisen. Sie besteht darin, dass eine eindeutige Kennung mit einer Reihe von digital gespeicherten Attributen (Name, Geburtsdatum, Geschlecht) verknüpft wird, die wiederum mit Identitätsnachweisen gekoppelt sind. Die e-ID kann verwendet werden, um bestimmte Dokumente einzusehen, aber auch für den Zugang zu Vorteilen und Dienstleistungen, die von Behörden, Banken und anderen Unternehmen angeboten werden, für mobile und Online-Zahlungen usw. Wie die Europäische Kommission erklärt, kann die e-ID «die eindeutige Identifizierung einer Person gewährleisten und stellt sicher, dass die richtige Dienstleistung für die Person erbracht wird, die tatsächlich Anspruch darauf hat».

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Das e-ID-Ökosystem, dargestellt von PwC. Screenshot der Website. © PwC

Für ihre Befürworter würde die e-ID ein ganzes Ökosystem von Produkten und Dienstleistungen ermöglichen, das das Leben der Menschen enorm erleichtern würde. Laut der Beratungsfirma PwC könnten ihre grundlegenden Attribute durch weitere Attribute und Dokumente ergänzt werden (Sozialversicherungsnummer, medizinische Aufzeichnungen, biometrische Informationen, Schulabschlüsse usw.). Sie könnte als «Katalysator der digitalen Transformation» dienen, indem sie bei unzähligen Gelegenheiten des täglichen Lebens zum Einsatz kommt: Eröffnung eines Bankkontos, Aufnahme eines Darlehens, Steuererklärung, Abschluss einer Versicherungspolice, usw. Und nicht zuletzt würde es zu erheblichen Kosteneinsparungen führen. Laut einem Bericht der Unternehmensberatung McKinsey könnte die Ausweitung bzw. die Vervollständigung der digitalen Identifizierung bis 2030 in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften einen wirtschaftlichen Wert von drei Prozent des Bruttoinlandprodukts freisetzen, wobei «etwas mehr als die Hälfte des potenziellen wirtschaftlichen Werts auf den Einzelnen entfällt».

Aber auch die e-ID wird seit jeher von vielen Experten mit grosser Skepsis und mit Vorbehalt betrachtet. Tommy Cooke vom Surveillance Studies Centre der Queen’s University in Kanada und Benjamin J. Muller, ausserordentlicher Professor in der Abteilung für Politikwissenschaft am King’s University College der University of Western Ontario, sind der Meinung: «Obwohl diese Systeme hochsicher und vertrauenswürdig sein sollen, bergen sie zahlreiche Risiken in Bezug auf Datenschutz und Zugriff.» Sie betonen, dass diese Risiken über Cybersicherheit, verantwortungsvolle Unternehmensführung und organisatorische Verantwortung hinausgehen: «Wir möchten jeden ermutigen, sich die grosse, aber wichtige Frage zu stellen: Was bedeutet es, die Identität zu digitalisieren, und was ist die Musteridentität? Mit anderen Worten: Wer ist der Modellbürger eines digitalen Identifikationssystems, und wie wird sein Bürgerprofil dazu verwendet, die Datenkategorien und Datenbanken zu erstellen, die für die Verifizierung erforderlich sind? Da verifizierbare Referenzen bekanntlich Aussagen über Personen machen, einschliesslich ihrer Staatsbürgerschaft, ihres Geschlechts, ihres Rechtsstatus, ihrer physischen Attribute, ihrer Zugehörigkeit und anderer Faktoren, wird es viele Personen geben, die auf dem Papier nicht genau dem Musterbürger entsprechen. Diese Personen könnten Reiseverboten, ausserordentlicher Überwachung oder anderen Einschränkungen der bürgerlichen Rechte und Freiheiten unterliegen, nur weil sie einen zusätzlichen Pass haben, weil sie an bestimmte Orte gereist sind, aufgrund ihres Familienstands, ihrer Beschäftigung usw.».

Was ein Ausfall konkret bedeuten kann: Hunger, fehlende Rente, Tod

Das indische System Aadhaar ist ein gutes Beispiel für dieses Problem. In Indien ist die e-ID bereits für mehr als eine Milliarde Menschen Realität. Aadhaar ist heute das grösste biometrische Identifikationssystem der Welt. Es dient als Portal für den Zugang zu Regierungsdiensten. Vom Milliardär Nandan Nilekani mit Unterstützung u. a. von Mastercard geschaffen, verfolgt es die Bewegungen der Nutzer von einer Stadt zur anderen, ihren beruflichen Status und ihre Transaktionen. Aadhaar, das vom damaligen Chefökonomen der Weltbank, Paul Romer, begeistert als «das ausgeklügelste Identifikationsprogramm der Welt» bezeichnet wurde, hat auch Pannen, deren Folgen dramatisch sein können. Recherchen im Jahr 2017 ergaben, dass es zu Todesfällen kam, weil das System den Leuten zustehende Essensrationen verweigerte oder ihre Rente fälschlicherweise an jemanden anderen auszahlte. Die Authentifizierung war aufgrund von schlechten Verbindungen, biometrischen Fehlern, Serverproblemen, fehlerhafter Datenverknüpfung, Fehlermeldungen und anderen technischen Fehlern fehlgeschlagen. Die Folge: Im Bundesstaat Jarkhand im Nordwesten des Landes mussten 2,5 Millionen Menschen auf ihre monatliche Getreideration verzichten, weil das System sie ausgeschlossen hatte.

Leider wurde dies nicht korrigiert, um in Zukunft weitere tragische Ausfälle zu vermeiden. Im Gegenteil, erklärte uns Sunita Sheel, Anthropologin und unabhängige Bioethikforscherin aus Mumbai, «die Dinge haben sich durch die Pandemie noch verschlimmert». «In Indien», betont sie weiter, «gab es eine starke Lobby, die dieses aggressive Vorgehen des Staates bei der Einführung der digitalen Technologie kritisierte», aber sie sei doch nicht stark genug gewesen, um «die Probleme zu ändern, die marginalisierte Gemeinschaften vor Ort erleben, ebenso wie die Mittelschicht». Heute ist das Aadhaar-Konto einer Person mit allen möglichen Daten und Systemen verknüpft: mit der PAN (Permanent Account Number), dem PDS (Public Distribution System), dem Direct Benefit Transfer (DBT) und ihren Bankkonten. «Selbst die Beschaffung eines neuen Passes ist ohne Aadhaar nicht möglich», sagt Sunita Sheel. «Auch der Kauf und die Übertragung von Eigentum kann nicht durchgeführt werden, ohne das Aadhaar vorzulegen oder mit den entsprechenden Behörden zu teilen.» Zwar räumt die Forscherin ein: «Fragen im Zusammenhang mit der Weitergabe von Daten an Dritte ohne die Zustimmung der Nutzer dieser Anwendungen (…) könnten in Regionen mit besseren rechtlichen und Governance-Umfeld etwas besser behandelt werden.» Jedoch, angesichts der finanziellen Herausforderungen, die mit Daten als «neues Öl» verbunden sind, und zwar «in allen Bereichen: Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft, Pandemie», meint Sunita Sheel, wäre dies nicht unbedingt ausreichend.

Auch in Europa kommt es immer wieder zu Ausfällen von Covid-19-Zertifikaten (Link 1)1 (2) (3) (4) (5).

Bei jedem Ausfall bleibt den Inhabern der Zertifikate der Zugang zu Orten verwehrt, obwohl diese eigentlich für sie reserviert wären. All diese Fälle zeigen ein grosses Problem solcher Systeme auf: Es ist immer zuerst die Person, deren Verifizierung fehlschlägt, die als nicht konform angesehen wird, obwohl das Scheitern auf einen Fehler oder eine Verzerrung im Design des Systems zurückgeführt werden kann.

Das Smartphone wird zur Eintrittskarte

Die e-ID-Lobbys zementieren bestimmte Überzeugungen unter den Entscheidungsträgern. Tommy Cooke und Benjamin J. Muller stellen fest: «Smartphones werden von den Behörden zunehmend als Technologien wahrgenommen, die mehrere Lücken gleichzeitig schliessen können. Nicht nur, um den Eindruck zu beheben, nicht in der Lage zu sein, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, sondern auch, um wirtschaftliche Schwierigkeiten zu überwinden.» So sind Smartphones, nachdem sie die naheliegenden Träger von Tracking-Apps waren, nun die bevorzugten Träger von Covid-19-Zertifikaten. «Da Pässe oder Impfbescheinigungen zunehmend als lebenswichtige Funktionen der öffentlichen Sicherheit wahrgenommen werden, sind nun auch privatwirtschaftliche Einrichtungen wie Restaurants, Bars, Fitnessstudios und Clubs dazu verpflichtet, einen Identitäts- und Impfnachweis zu verlangen», erinnern die kanadischen Forscher noch einmal. Für diese Einrichtungen ist im Zuge der Covid-Krise «das Smartphone weit mehr als ein einfacher Rechner und ein Analysewerkzeug geworden. Es ist nun auch ein Wahrheitsträger im Kontext der Staatsbürgerschaft und des Gesundheitszustands. Ebenso wichtig ist, dass es sich auch in ein Vehikel zur Ankurbelung und Stimulierung der Wirtschaft verwandelt.»

Im Zuge dieser Verschiebung sind immer mehr Regierungen bereit, auf den Zug aufzuspringen und die e-ID zu «realisieren», indem sie die Infrastruktur für Covid-19-Zertifikate nutzen: «Digitale Identitätssysteme sind auf dem Vormarsch», bestätigen Tommy Cooke und Benjamin J. Muller. Kurz vor oder während der Pandemie haben viele Regierungen auf der ganzen Welt (z. B. Grossbritannien, Australien, Neuseeland, die Europäische Union, Kanada und andere) angekündigt, dass sie Technologiesysteme entwickeln werden, mit denen Bürger und Organisationen ihre Identität nachweisen können. Oder dass sie bereits dabei sind, dies zu tun.

Transformation in der Schweiz und in der EU im Gange

Die Europäische Kommission beispielsweise äussert nun offen ihren Wunsch, dass sich das Covid-19-Zertifikat der EU zu einer e-ID-Wallet-Lösung weiterentwickeln soll. Charles Manoury, Sprecher der Europäischen Kommission, erklärte: «Die Vorlagenlösung, die den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt wird, um Anwendungen zur Speicherung von EU-CDCs [EU Covid-19-Zertifikaten – Anm. d. Red.] zu erstellen, ist die erste Form dessen, was sich zum vollwertigen digitalen Wallet entwickeln kann.»

Als die Europäische Kommission im März 2021 ihre Absicht ankündigte, das Covid-19-Zertifikat einzuführen, hatte sie ihre Bürger jedoch nicht davor gewarnt, dass das «gemeinsame Modell, das mit den Mitgliedstaaten entwickelt wurde, um die Anerkennung von in Papierform ausgestellten EU-COVID-Zertifikaten zu erleichtern», zu einem «vollwertigen digitalen Wallet» weiterentwickelt werden soll. Ganz im Gegenteil. Damals behauptete sie, dass Covid-19-Zertifikate «mit der COVID-19-Pandemie verbunden» seien, und das «System der digitalen grünen Zertifikate» würde «ausgesetzt, sobald die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Ende der durch das COVID-19-Virus verursachten Gesundheitsnotlage erklärt hat» und könne nur reaktiviert werden, «wenn die WHO eine neue Gesundheitsnotlage im Zusammenhang mit COVID-19, einer Variante davon oder einer ähnlichen Infektionskrankheit ausruft». Die Aussicht auf ein Covid-19-Zertifikat, das sich zu einer «vollwertigen digitalen Brieftasche» entwickelt, widerspricht also diesen Zusicherungen einer begrenzten Nutzung, sowohl zeitlich als auch hinsichtlich des Anwendungsbereichs.

Kaum war die e-ID abgelehnt, wurde bereits wieder dafür geweibelt

Auch die Schweiz beteiligt sich mit ihrem neuen Gesetzentwurf zur e-ID an dieser Bewegung. Am 7. März 2021 lehnten 64,4% der Schweizer den ersten Entwurf des e-ID-Gesetzes ab. [Hauptargument der Gegner war die vorgesehene private und nicht staatliche Verwaltung der e-ID – Anm. d. Red.] Nur drei Tage später wurden bereits die ersten Anstrengungen unternommen, um das Thema schnellstmöglich wieder aufzugreifen: Am 10. März 2021 wurden im Parlament sechs Motionen mit identischem Wortlaut eingereicht, die die Einführung eines «staatlichen elektronischen Identifikationsmittels zum Nachweis der eigenen Identität (Authentifizierung) in der virtuellen Welt», forderten. «Diese E-ID darf auf privatwirtschaftlich entwickelten Produkten und Diensten beruhen. Der Ausstellungsprozess und der Gesamtbetrieb der Lösung muss aber durch staatliche, spezialisierte Behörden in der Verantwortung erfolgen.» Die Dinge liessen dann nicht lange auf sich warten und die Konsultation endete bereits am 14. Oktober 2021.

Plakate E-ID-Gesetz
Im März 2021 sprach sich eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung klar dagegen aus, dass der digitale Identitätsausweis privaten Firmen übertragen wird. © Swissinfo

Im Juli 2021 hatte das Lobbying seine Wirkung getan und die Aargauer Zeitung schrieb sinngemäss: Früher wollte niemand die e-ID, aber Covid hat das Blatt gewendet. «Nach eineinhalb Jahren Pandemie ist die digitale Welt in der Schweiz nicht mehr dieselbe wie vor Covid. Die Covid-App und das Covid-Zertifikat, die im gleichen Geist geschaffen wurden, haben eine neue Grundlage geschaffen», behauptete der Artikel, der die begeisterten Worte des grünen Nationalrats Gerhard Andrey zitierte. Für den IT-Unternehmer hatten die SwissCovid-App und das Covid-19-Zertifikat «eine völlig neue Dynamik in der Schweiz» ausgelöst und «den politischen Mainstream geprägt». Kurzum: «Eine ähnlich geprägte E-ID könnte zum Renner werden», hiess es.

Verknüpfung von Impfstatus, biometrischen Daten und e-ID 

Eines ist sicher: Die Unternehmen und Interessengruppen, die die e-ID durchsetzen wollen, haben nicht nur theoretische Überlegungen angestellt und nicht die Covid-Krise abgewartet, um aktiv zu werden.

Diese «Digital-Identity-Industrie» ist seit Anfang der 2010er-Jahre und insbesondere seit 2014 aktiv: In diesem Jahr hat die Weltbank die Initiative Identification for Development ID4D ins Leben gerufen. Sie soll Ländern dabei helfen, das Ziel 16.9 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung zu erreichen: «Bis 2030 allen Menschen eine legale Identität zu verschaffen, einschliesslich der Registrierung von Geburten.» Laut der Weltbank soll die Erreichung dieses Ziels «Fortschritte» bei der «Beseitigung der Armut, der Verringerung von Ungleichheiten, der Gleichstellung der Geschlechter und der Stärkung der Frauen, der sicheren und geordneten Migration, der allgemeinen Gesundheitsversorgung und der finanziellen Inklusion» ermöglichen. Die Implementierung der e-ID und ihre potenziellen Anwendungsbereiche in der realen Welt wurden also bereits seit mehreren Jahren getestet, insbesondere in den Ländern der südlichen Hemisphäre.

So geht die Idee, Impfstatus und e-ID zu koppeln, auf das Jahr 2018 zurück. Sie wurde von der ID2020-Allianz vorgestellt, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Tatsache zu nutzen, dass in vielen Entwicklungsländern die Durchimpfungsrate weit über der Geburtenregistrierungsrate liegt. Schätzungen zufolge, so schrieb ID2020, «erhalten mehr als 95% der Kinder weltweit mindestens eine Dosis eines Impfstoffs» und «86% der Kinder weltweit erhalten die empfohlenen drei vollständigen Dosen des Impfstoffs gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten, was üblicherweise zur Messung der Durchimpfungsrate verwendet wird».

Zusammenarbeit mit Facebook und Mastercard gewünscht

Der Vorschlag lautete daher: Die Impfung als «Einstiegspunkt» für die Implementierung eines e-ID-Systems zu nutzen, indem der Impfstatus mit einem biometrischen Identifikationssystem verknüpft wird. «Impfungen sind eine grossartige Gelegenheit, Kindern von Beginn ihres Lebens an eine dauerhafte, tragbare und sichere digitale Identität zu verschaffen», lobte ID2020. Inzwischen wurde das Prinzip im Rahmen eines Projekts in Bangladesh in die Praxis umgesetzt, wo «weniger als 40% der Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr eine Geburtsurkunde erhalten», die Impfrate jedoch «97% für vermeidbare Krankheiten» beträgt. ID2020 verwaltet dort nun die biometrische Registrierung und digitale Identifizierung von Säuglingen, wenn sie Routineimpfungen erhalten. Im September 2019 äusserte Seth Berkley, CEO von Gavi (Globale Allianz für Impfstoffe und Immunisierung) den Wunsch, dass das Programm in Zusammenarbeit mit Akteuren wie Facebook und dem Zahlungsunternehmen Mastercard, das im Bereich der e-ID sehr aktiv ist, auf alle Entwicklungsländer ausgeweitet werde.

Ebenfalls 2018, als ID2020 sein Projekt vorstellte, entschied sich Mastercard für denselben «Einstiegspunkt», ging zu diesem Zweck eine Partnerschaft mit der Gavi-Allianz ein und trat an Trust Stamp heran, ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Unternehmen für Identitätsauthentifizierung. Ziel des Projekts: Aufbau einer Plattform für biometrische Identitäten in abgelegenen Gemeinden mit niedrigem Einkommen in Westafrika. Ausgangspunkt ist der Wellness Pass, ein digitaler Impfpass, der mit einem Identitätsprüfungssystem verbunden ist, das von NuData, der Technologie für künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen von Mastercard, gespeist wird. Die von diesen drei Akteuren entwickelte Plattform wurde im Juni 2020 eingeführt, wobei eine von Trust Stamp entwickelte Lösung in den Wellness Pass von Gavi und Mastercard integriert wurde. In beiden Fällen war das Gespenst der Überwachung und des masslosen Absaugens sensibler biometrischer Daten nie sehr weit entfernt. Die Trust Stamp-Technologie im Mastercard-Projekt beispielsweise ist auch die Technologie, die das Unternehmen Strafverfolgungsbehörden und Gefängnissystemen für die Zwecke der Überwachung und des Predictive Policing [das Durchforsten und Zusammenführen von Daten um Tatverdächtige zu ermitteln – Anm. d. Red.] anbietet.

Ghost-Management am Werk 

Parallel zu diesen Aktivitäten vor Ort haben die verschiedenen interessierten Akteure einen umfangreichen Lobbyismusapparat aufgebaut, um ihre Agenda voranzutreiben und den Übergang zur e-ID auf möglichst globaler Ebene zu erleichtern. Dieses komplexe Geflecht aus Aushängeschildern und supranationalen Initiativen wird von den Giganten des globalisierten Kapitalismus, Regierungsbehörden, Banken, Kreditinstituten, Zentralbanken, Einrichtungen, die bei Regierungsbehörden unter Vertrag stehen, Stiftungen von Milliardären, Beratungsfirmen und einer Unzahl von Unternehmen getragen, die sich gegenseitig unterstützen.

Interessensverflechtungen e-ID
Re-Check hat die Akteure rund um acht Initiativen und ihre Interessensverflechtungen im Detail untersucht. Eine hochauflösende Grafiken wird demnächst auf der Website von Re-Check veröffentlicht werden. Zu den beteiligten Akteuren gehören Stiftungen, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, Beratungsunternehmen, Technologiegiganten (Big Tech), aber auch Universitätskliniken, Vertreter der eHealth-Branche und eine Vielzahl von Unternehmen, die im Bereich digitale Identitätslösungen, biometrische Daten und Technologien wie Blockchain tätig sind (die Liste ist nicht vollständig). Viele dieser Akteure gehören zu dem, was Privacy International als «e-ID-Industrie» bezeichnet. Die Pfeile zwischen den verschiedenen Akteuren sollten nicht als Beweis dafür interpretiert werden, dass «jemand die Fäden zieht». Sie stellen lediglich Interessenverbindungen dar, die wir aufzeigen konnten. Ihre Zahl zeugt von der Grösse der Anstrengungen und der Herausforderungen, die in finanzieller Hinsicht, aber auch in Bezug auf die Kontrolle auf dem Spiel stehen. © Serena Tinari, Catherine Riva / www.re-check.ch

Ihre Schaufenster kommunizieren mit verschwommenen und beschwichtigenden Vokabeln, welche die e-ID als Empowerment-Lösungen darstellen, die Vertrauen, Sicherheit, Einfachheit, Komfort, reibungslosen Übergang und vor allem «Inklusion» garantiert: inklusive Entwicklung, inklusive Finanzdienstleistungen, inklusives Wachstum, digitale Inklusion, politische Inklusion, inklusive Technologie… Die e-ID sei auch die Schlüsselwaffe gegen den «Identitätsdiebstahl», dessen Ernsthaftigkeit diese Akteure nicht müde werden zu betonen .

Auch an die Emotionen wird appelliert: Wer ist schon so herzlos, dass er sich nicht wünscht, dass alle Neugeborenen mit ID2020, «Zugang zu einem breiteren Spektrum an sozialen Diensten» und «Gesundheitsmassnahmen, die alle Kinder brauchen und verdienen» haben?

Bei all diesen Aufrufen darf man nicht vergessen, dass die e-ID für dieses riesige Konglomerat in erster Linie ein ausserordentlicher Glücksfall ist: für die kommerziellen Akteure in finanzieller Hinsicht und für die staatlichen Akteure in Bezug auf Kontrolle und Überwachung. Die Vertreter des Überwachungskapitalismus, der biometrischen Technologien und des Trackings sind unter ihnen besonders stark vertreten. So gehört zu den enthusiastischsten Unterstützern der Umwandlung von Covid-19 QR-Codes in e-IDs Thales (6) (7) (8) (9), der französische Riese für biometrische Technologien und Überwachung. Oder das britische Unternehmen iProov, das sich auf biometrische Online-Authentifizierung spezialisiert hat.

Die Krise als Beschleuniger

Die Covid-Krise hat also einer von einem mächtigen Komplex getragenen Agenda, die seit einem guten Jahrzehnt reifte, einen gewaltigen Beschleunigungsschub verliehen. Die Früchte scheinen nun reif für die Ernte zu sein, und die Erwartungen sind dementsprechend hoch. Laut dem Marktforschungsunternehmen Mordor Intelligence, haben 72% der Online-Marktplätze ihre Technologie zur Identitätsprüfung «aufgrund von Covid-19» verstärkt, und die digitale Identitätsprüfung wird immer mehr zu einem wesentlichen Bestandteil des Bankensektors. Laut dem Portal MarketsandMarkets wird der Markt für Lösungen zur digitalen Identität im Jahr 2024 und im Jahr 2026 49,5 Mrd. USD betragen. Einige Start-ups, die im Bereich der digitalen Identität auf der Grundlage von künstlicher Intelligenz, biometrischen Daten oder maschinellem Lernen tätig sind, können nun auf finanzielle Unterstützung in Höhe von einer Milliarde US-Dollar hoffen.

e-ID PwC
Heute ist die digitale Identität fragmentiert, die Sicherheitsanforderungen sind uneinheitlich. Würden die Pläne umgesetzt, entstünde für jeden Menschen eine digitale Identität, die in allen Bereichen gelten würde und in punkto Sicherheit einheitlich geregelt wäre. Screenshot der Website von PwC. © PwC

Auch wenn die offensichtlichsten Lobbys der Industrie für digitale Identität vor allem mit privaten Unternehmen und Stiftungen verbunden sind, bedeutet dies nicht, dass die von den Staaten getragenen Lösungen per definitionem unbedenklich sind. Dies gilt auch für die Europäische Union (EU).

Die EU gab Milliarden aus, um Überwachungssysteme zu entwickeln

In ihrer Kommunikation hat die Europäische Kommission vor allem ihren Wunsch hervorgehoben, dass die Einwohner der EU «die Kontrolle» über ihre Daten behalten, «anstatt sie mit Technologiegiganten wie Google und Facebook zu teilen». Dieser erklärte Wunsch, «die Bürger vor den digitalen Giganten zu schützen», hat die EU nicht davon abgehalten, in den letzten 15 Jahren Milliarden von Euro in Überwachung und biometrische Technologien zu investieren. Im Dezember 2020 deckte eine Untersuchung von The Guardian auf, dass Horizon 2020, das EU-Forschungsförderungsprogramm, an dem die Schweiz beteiligt ist, zwischen 2007 und 2020 die Entwicklung von Sicherheitsprodukten für Polizeikräfte und Grenzkontrollbehörden im öffentlichen und privaten Sektor mit 2,7 Milliarden Euro unterstützt hat. Die meisten dieser Produkte nutzten Technologien wie künstliche Intelligenz, Drohnen und Augmented Reality, Gesichts-, Sprach-, Venen- und Iriserkennung sowie andere Formen der Biometrie, die für die Überwachung eingesetzt werden können.

Im Januar 2021 stellte eine Recherche auf voxeurop fest, dass eine wachsende Zahl biometrischer Innovationen, die in jüngster Zeit in verschiedenen europäischen Ländern eingeführt wurden (z. B. biometrische Verifizierung bei der Paketzustellung, Zahlungen per Gesichtserkennung und biometrische Zahlungskarten), in eine zentrale Identität integriert werden könnten. Der Artikel kam zu dem Schluss, dass die Entscheidung, nur digitale Identitäten und Covid-19-Zertifikate als Mittel für eine «Rückkehr zur Normalität» zu wählen, einem beispiellosen Überwachungssystem Tür und Tor öffnete, durch das die Bürger zudem ihrer Rechte beraubt werden könnten.

Schliesslich ist es sicher, dass private Lobbyisten ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen werden, um die künftigen Funktionen der EU-e-ID und die Rechtsvorschriften, die den Rahmen dafür bilden, zu beeinflussen. Sie begrüssen zwar die Initiative der Europäischen Kommission, haben aber bereits betont, wie wichtig es ist, die Industrie, den Finanzsektor und das Know-How des Privatsektors in die Gestaltung des endgültigen Systems einzubeziehen.

Medizinskandal Alterung

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