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Adrenochrom & Satanskulte – Die dualistischen Verschwörungsmythen von Xavier Naidoo

Adrenochrom & Satanskulte – Die dualistischen Verschwörungsmythen von Xavier Naidoo
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Mitten aus unserem schönen Baden-Württemberg streamt und raunt sich Xavier Naidoo in die digitalen QAnon-Troll-Charts. Inzwischen erreichen mich dazu verunsicherte Anfragen aus Schulen. Und wir würden es uns zu einfach machen, wenn wir das virale Raunen über FFF-Satanskulte, Adrenochrom und Reichsbürgertum nur als “wirres Geschwurbel” und “wahnhaft”, als Ergebnis von psychischen Problemen oder Kiffen abtun würden. Denn dahinter steht eine historische und leider nicht ungefährliche Mythentradition: So ist Adrenochrom eigentlich nur ein Stoffwechselprodukt von Adrenalin, in digital verbreiteten Verschwörungsmythen jedoch längst ein Nachfolger der mittelalterlichen “Hexensalbe”, “Droge der Eliten” und Ausdruck eines weiblich-jüdischen Teufelspaktes. Immerhin: Wenn man diese Mythenwelt einmal begriffen hat, kann sie einem nichts mehr anhaben. Daher plädiere ich auch hier für: Wissen und Aufklären. Die echte Religionsgeschichte dahinter ist ohnehin viel interessanter als die seit Jahrhunderten immergleiche Verschwörungsmythologie…

Internet-Meme zu Adrenochrom, bei dem nicht einmal die Rechtschreibung stimmt. Aber der dahinterstehende Verschwörungsmythos einer aus Kindesmissbrauch gewonnenen “Hexensalbe” ist ja auch schon einige Jahrhunderte alt… Screenshot via Twitter: Michael Blume

Dazu hier auf dem Blog die Folge 5 meines Podcasts “Verschwörungsfragen” auch als pdf-Text

Alle Verschwörungsfragen-Folgen als mp3 auf podigee sowie als Video auf YouTube, auf Spotify, Deezer, iTunes & Co.

Hier der Fließtext:
Herzlich willkommen zur fünften Folge des Podcasts „Verschwörungsfragen“.
Schon in der ersten Folge hatte ich angekündigt, auch einmal über die Verschwörungsmythen des süddeutschen Sängers Xavier Naidoo zu berichten. Und in den vergangenen Tagen hat der Mannheimer gezielt so eskaliert, dass mich dazu viele, teilweise verstörte Fragen erreicht haben.
Bereits 1998 zweifelte der Sänger während einer MTV-Livesendung die Legitimität der Bundestagswahlen an. 1999 erklärte er dem „Musikexpress“, er sei ein – Zitat – „Rassist, aber ohne Ansehen der Hautfarbe“. Dazu sagte er: „Bevor ich irgendwelchen Tieren oder Ausländern Gutes tue, agiere ich lieber für Mannheim.“

2009 veröffentlichte er auf dem Album „Alles kann besser werden“ bereits den Song „Raus aus dem Reichstag“, in dem er antisemitisch raunte, „Baron Totschild gibt den Ton an“. Im gleichen Album behauptete er zudem, die Terroranschläge des 11. September 2001 in New York sowie jene in London und Madrid seien von der CIA ausgeführt worden.
2010 zeigte er den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler wegen vermeintlichen Hochverrates an.
2011 verkündete er im ARD-Morgenmagazin, Deutschland sei immer noch „ein besetztes Land“, habe keinen Friedensvertrag geschlossen und sei also „auch kein echtes Land.“ Schlüssig, dass er dann 2014 bei einer Veranstaltung von Reichsbürgern vor dem Bundestag auftrat und auch dort Verschwörungsmythen verkündete. 2017 drohte er dann in seinem Song „Marionetten“ den vermeintlichen „Puppenspielern“ bereits Gewalt durch den „wütenden Bauer mit der Forke“ an.
Wir werden sehen, dass auch dieses mittelalterlich anmutende Bild kein Zufall ist. Ich werde in dieser Podcast-Folge aufzeigen, dass sich Xavier Naidoo tatsächlich auf vormoderne, menschenverachtende und gewaltaffine Verschwörungsmythen und Bilder beruft.

Seine Absage an den deutschen Rechtsstaat hielt ihn nicht davon ab, im gleichen Jahr eine Referentin der Amadeu-Antonio-Stiftung vor Gericht zu verklagen, die ihm Antisemitismus vorgeworfen hatte. Das von ihm verhöhnte Rechtssystem gab ihm in zwei Instanzen Recht; zuletzt noch am 22. Oktober 2019, zwei Wochen nach dem antisemitischen Anschlag von Halle.

Als Bürgerinnen und Bürger gegen die Nominierung Naidoos als Vertreter Deutschlands für den European Song Contest protestierten, solidarisierten sich Künstlerinnen und Künstler unter anderem mit einer großen Zeitungsanzeige mit ihm. Auch als Juror bei „Deutschland sucht den Superstar“ durfte er weiter amtieren. Vor wenigen Tagen begann Naidoo dann, mit Videos weiter zu eskalieren und auch seine bisherigen Unterstützer wie RTL zu verhöhnen: Sie hätten ihm letztlich nur geholfen, seine Botschaften und sein kommendes Album zu promoten.

So griff Naidoo in einem Video „Gäste“ – also Ausländer – an, die er als mörderisch bezeichnete und erneut mit Tieren verglich, Zitat: „Eure Töchter, eure Kinder sollen leiden. Sollen sich mit Wölfen in der Sporthalle umkleiden. Und ihr steht seelenruhig nebendran.“ – Zitat Ende –

In einem weiteren Video identifizierte er die Klimaschutz-bewegung „Fridays for Future“ mit der 666, der sog. „Zahl des Antichristen“ aus der biblischen „Offenbarung des Johannes“, der Apokalypse, Vers 13, 18.
In einer Videoantwort auf den mit ihm langjährig verbundenen Verschwörungsverkünder Oliver Janich leugnete Naidoo die Ergebnisse der Klimaforschung sowie die Souveränität Deutschlands und erklärte, sich an Wahlen im bestehenden „Unrechtssystem“ nicht zu beteiligen.

Schließlich bezeichnete er SPD und Linke als „die neuen Faschisten“ im Kontext der National-Sozialisten. Und er weinte ergriffen wegen der angeblich anstehenden Befreiung zahlreicher Kinder, die von einer weltweiten, satanischen Verschwörung noch gefangen gehalten und gefoltert würden, um aus ihrem Blut „Adrenochrom“ zu gewinnen.

Inzwischen haben sich viele langjährige Weggefährten Naidoos wie die „Söhne Mannheims“ und Dieter Bohlen enttäuscht von den Ausfällen des Sängers distanziert. Seine Auslassungen werden als verschroben und wirr wahrgenommen, nicht wenige spekulieren über psychologische Probleme oder die Folgen von Drogenkonsum. Viele Medien berichten nur noch zurückhaltend, um Naidoo und seinen Botschaften nicht noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Doch über die sogenannten sozialen Medien erreicht der Sänger immer noch sehr viele Menschen und ergebene Fans. Und während ich gut verstehe, dass die Aussagen Naidoos vernünftigen und aufgeklärten Menschen nur noch als wirr und wahnhaft erscheinen, dürfen wir es uns meines Erachtens nicht so einfach machen.

Naidoos Aussagen bewegen sich im Rahmen einer christlich-dualistischen Verschwörungsmythologie aus Antisemitismus und Hexenglauben, die sich im süddeutschen Sprachraum im 15. Jahrhundert entwickelt und viele Menschen das Leben gekostet hat.

Über die Geschichte und Hintergründe der Alphabetisierung und des Antisemitismus habe ich in Folge 2 dieses Podcasts bereits ausführlich gesprochen.

Auch die Entstehung des Frauenhasses und Hexenwahns möchte ich gerne in einer zukünftigen Podcast-Folge thematisieren. Hier reicht jedoch zunächst der Hinweis, dass der dualistische Glauben an eine weltweite Verschwörung von sogenannten Hexen mit dem Teufel sowohl in Judentum wie Christentum und Islam bis ins 14. Jahrhundert weitgehend erfolgreich gebannt worden war.

Doch ab dem 12. Jahrhundert erfolgte in Europa eine Vermischung des Antisemitismus mit einem neu aufsteigenden Hexenglauben. Dafür gab es mehrere Gründe, die in der Wahrnehmung auch heutiger Verschwörungsgläubiger eine große Rolle spielen.

So hatte das europäische Christentum mehrere Kreuzzüge gegen islamische Reiche verloren und geriet kulturell, militärisch und religiös in die Defensive. Enttäuscht wandten sich viele vom Glauben an den bisherigen Schutzpatron der Ritter, den Erzengel Michael, ab. Stattdessen gewann die Verehrung irdischer Krieger wie St. Georg an Zulauf. 1453 fiel Konstantinopel, das einstige Ostrom und heutige Istanbul, an die Osmanen, die über den Balkan in Richtung auch der deutschsprachigen Regionen vordrangen.

Die Ausbreitung der Geldwirtschaft und des Papiers veränderten insbesondere die Kulturen der Städte. Dies führte zu sogenannten „Renaissancen“ – Wiedergeburten – also Rückbesinnungen auf die vorchristliche Antike einerseits und Bibeltexte andererseits. Dies beförderte auch damals, wie in Folge 4 für heute beschrieben, Umwälzungen der Geschichtsbilder, Romantisierungen der Vergangenheit und ein Zeitgefühl der Krise.

In seinem Meisterwerk „Der Name der Rose“ hat Umberto Eco die Spannungen genau dieser Epoche zwischen zunehmender Renaissance-Gelehrsamkeit und mörder-ischem Verschwörungshass eindrucksvoll beschrieben.

Naidoos Zerrbild von vermeintlich verschwörerischen, glaubensabtrünnigen Bildungseliten einerseits und „mit der Forke“ wütenden „Bauern“ andererseits findet hier seinen historischen Halt.

Hinzu kamen Ausbrüche von Pesterregern und starke, klimatische Schwankungen, die ab dem 15. Jahrhundert regional zu Ernteausfällen und Hungersnöten führten.  Da es damals noch kaum wissenschaftliche Erklärungen gab, wurden diese Ereignisse als Folge teuflischer Verschwörungen gedeutet. Beschuldigt dafür, verfolgt und ermordet wurden Jüdinnen und Juden wegen vermeintlicher „Brunnenvergiftung“ sowie Katharer („Ketzer“) und Waldenserinnen, bei denen auch Frauen predigen durften. Damit einher ging das Wiederaufleben des Glaubens an eine weltweite Verschwörung von Juden und „ketzerischen Hexen“ mit Dämonen.

Die Verschwörungsverkünder verknüpften all diese Ereignisse mit der Apokalyptik, vor allem mit dem biblischen Buch der Johannes-Offenbarung: Jetzt wüte noch der Teufel, bald aber werde der Retter kommen. Bis dahin gelte es, so erbittert und auch gewalttätig wie möglich gegen Juden, Ketzer und Hexen vorzugehen.

Regional besonders früh und stark entfaltete sich diese verschwörungsgläubige, antisemitische und frauenfeindliche Variante des Christentums im süddeutschen Sprachraum.

Dass heute auch Xavier Naidoo sowohl Politikerinnen wie auch Wissenschaftlern und jungen Klimaaktivisten über die Johannes-Offenbarung vorwirft, Teil einer angeblich mächtigen, teuflischen Verschwörung zu sein, passt leider auch genau in dieses Bild.

Für die damalige Zeit vermerkte Helmut Fidler schon alleine für die Bodenseeregion eine ganze Welle des antisemitischen Hasses: 1294 wurden Jüdinnen und Juden in Bern nach einem Ritualmordvorwurf ermordet. 1322 konnte ein Pogrom gegen die Juden in Engen wegen des gleichen Vorwurfs durch die österreichischen Herzöge gerade noch verhindert werden. Doch 1333 wurde die jüdische Gemeinde in Überlingen mit mehreren Hundert Mitgliedern in ihrer Synagoge von einem brandschatzenden Mob ausgelöscht; die Stadt dafür später noch vom Kaiser bestraft. An das vermeintlich von Juden ermordete Kind, dem bald trotz kirchlicher Nichtanerkennung eine Wallfahrtskapelle errichtet wurde, erinnert bis heute die Überlinger Ulrichstrasse.

Wegen angeblicher Brunnenvergiftung wurden 1349 Jüdinnen und Juden in Ravensburg, Buchhorn, Feldkirch, Schaffhausen, der Thurgau, St. Gallen und Konstanz niedergemacht. Einige Hundert wurden im September des Jahres nach monatelanger „Schutzhaft“ von den Fürsten an die hasserfüllte Bevölkerung ausgeliefert und dann ermordet.

Dies widerspricht auch Erklärungen, die damaligen Pogrome seien „spontan“ oder „im Affekt“ wegen der Pest ausgebrochen; der Vorwurf gegen die Fürsten, sich mit vermeintlichen Verschwörern gemein zu machen, konnte über Monate aufrechterhalten werden. Naidoos Gewalt-ankündigungen gegen die vermeintlichen „Puppenspieler“ bekommen auch hier eine beklemmende Note.

1401 wurden weitere jüdische Gemeinden wegen Ritualmordvorwürfen vernichtet, 1429 dann Lindau und wieder Überlingen und Ravensburg.

Und es sollte leider noch schlimmer kommen: Aus dem antisemitischen Verschwörungsvorwurf der „Hostienschändung“, mit dem der im Abendmahl symbolisierte Leib Christi für dunkle Magie missbraucht worden sei, sowie aus dem Wegschieben der eigenen Morde und Pogrome entstand der Mythos der magischen „Hexensalbe“. In Werken wie dem Nürnberger „Formicarius“ von 1430 wurde vor allem Frauen vorgeworfen, gemeinsam mit Juden und Teufeln den „Hexensabbat“ zu begehen und aus ermordeten, christlichen Kindern eine teuflische, mächtige Salbe herzustellen. Die Ermordeten wurden damit nachträglich zu Bedrohungen umgedeutet, die Pogrome und Morde zu vermeintlicher Selbstverteidigung.

Mit der Hexensalbe haben wir die Vorläufer des heute auch von Naidoo verkündeten Adrenochrom-Verschwörungsmythos. Beschuldigte Frauen, aber auch ganze Familien wurden unter dem Vorwurf der teuflisch-rituellen Kindesmisshandlung eingesperrt, beschuldigt und verbrannt. Auch heute lesen sich die stolzen Schilderungen der Verfolger schwer erträglich, nach der zum Beispiel ein Ehemann unter der Folter schließlich die Herstellung der magischen Salbe „gestand“, wogegen seine Frau auch noch bei ihrer Verbrennung auf ihrer Unschuld beharrt hätte.

Um die vermeintlich niedere, mit Tieren und Dämonen verbundene Macht von „Hexen“ und Gestaltwandlern wie Werwölfen zu brechen, kam es zu heftigeren und sexualisierten Folterempfehlungen wie der gewalttätigen Rasur aller Körperhaare Beschuldigter durch Scharfrichter. Naidoos rassistische Migrant-Wolf-Kinderverschlinger-Zeilen stehen nicht im historischen Nichts.


Mit der Einführung des Buchdrucks ab 1450 eskalierte der Antisemitismus und Hexenwahn noch einmal. Eine bedeutende Rolle spielte dabei der spätere Inquisitor Heinrich Kramer, sozusagen der Inbegriff des menschenverachtenden und mörderischen Trolls in den damals neuen Medien.

Nach eigenen Angaben beteiligte sich der 1430 im Elsaß geborene Dominikaner schon 1458 an der Hinrichtung eines Waldenserbischofs. Wegen Beleidigung des Kaisers erlitt er eine Gefängnisstrafe, war außerdem in verschiedene Rechtsstreitigkeiten wegen Diebstahl und Betrugs verwickelt und überwarf sich mit zahlreichen vernünftigeren Menschen wie seinem Ordensoberen.

Doch im antisemitischen Ritualmordprozess um das angeblich von Juden ermordete Kind Simon von Trient gelang ihm der Karriere-Durchbruch. Ein päpstlicher Kommissar und Bischof hatte den Abbruch des Prozesses gegen die unschuldigen Jüdinnen und Juden gefordert.

Doch Kramer sammelte Verschwörungserzählungen und Foltergeständnisse angeblicher „Ritualmorde“ aus anderen Städten und nahm an der Hinrichtung der Beschuldigten 1476 teil. Simon von Trient wurde zu einem katholischen Märtyrer erhoben und später heilig-gesprochen, die antisemitische Ritualmordlegende Jahrhundertelang Teil der kirchlichen Lehre. Kramer aber stieg zum päpstlichen Inquisitor auf.

Nun ging er vor allem gegen Frauen vor und beschuldigte eine Gruppe von Augsburger Christinnen, weil diese zu oft (!) das Abendmahl begingen, der Hexerei. Die vom Juden- zum Christentum übergetretene Innsbruckerin Ennel Notterin bezeichnete er gar als Lehrmeisterin der Tiroler Hexen. Stolz verkündete er die Verbrennung von 48 Frauen innerhalb von vier Jahren in der Diözese Konstanz.

Als Kramer jedoch 1485 in Innsbruck sieben Frauen verhaften ließ, erlitt er gegen den dortigen Bischof Georg Golser ein Debakel. Die Anwälte des Bischofs unterbrachen den Prozess und zerpflückten die Anklage, auch weil der Inquisitor die Frauen nach sexuellen Details befragt hatte. Der Bischof selbst erklärte den Inquisitor in einem Brief für geistesgestört und ordnete an, ihn aus der Diözese zu werfen.

Doch der fanatische Kramer erinnerte sich an seinen vermeintlichen „Erfolg“ im antisemitischen Prozess um Simon von Trient und erstellte eine noch umfangreichere Materialsammlung. Nach dem Vorbild des antisemitischen Frankfurter „Malleus Judeorum / Judenhammer“ von 1420 veröffentlichte Kramer 1486 den „Malleus Maleficarum“, den „Hexenhammer“. Einführend schilderte er dabei mit Berufung auf eine päpstliche Bulle, ein gefälschtes Gutachten der Universität Köln und die biblische Offenbarung des Johannes, dass sich das Aufbäumen der teuflischen Verschwörer gegen die baldige Wiederkunft des Erlösers richtete und also mit Gewalt niedergeschlagen werden müsse.

Auch in dieser Frage steht Naidoo in einer direkten Traditionslinie der System- und Menschenverachtung. Ich finde: Wer im 21. Jahrhundert engagierte Umweltschützerinnen wie Greta Thunberg und Luisa Neubauer verschwörungsgläubig mit der „Zahl des Antichristen“ und dem Vorwurf des Satansbundes verknüpft, ist nicht mehr Künstler, sondern Hater.

Kramer starb weitgehend unbeachtet 1505 in Böhmen. Doch sein wahnhaftes Verschwörungswerk voller antisemitischer und frauenfeindlicher Beschuldigungen sowie obszöner Gewaltdarstellungen vor allem gegen Kinder wirkte weiter. Es blieb bis ins 17. Jahrhundert mit rund 30 Auflagen das führende Werk des Hexenwahns, dem europaweit Zehntausende Unschuldige zum Opfer fielen. Was Deutschland schon bei der katastrophalen Echo-Verleihung an Kollegah und Farid Bang sowie bei Thilo Sarrazin und Xavier Naidoo wieder lernen musste, gilt schon seit dem Inquisitor Kramer: Verkaufserfolge alleine verbürgen noch keine Qualität. Menschenverachtung und Verschwörungsgeschwurbel werden seit Jahrhunderten stark nachgefragt.

Ein Teil der Nachfrage zum „Hexenhammer“ ging dabei auch auf einen Effekt zurück, den wir unter heutigen, digitalen Verschwörungsgläubigen wieder sehen: Wer selbst ein gestörtes Verhältnis zu seiner Sexualität sowie Gewaltfantasien hat, konnte diese nun abspalten, auf vermeintliche Verschwörerinnen projizieren und sich dann stundenlang an den entsprechenden Schilderungen und Darstellungen erregen. Dies erklärt, warum antisemitische, rassistische und sexistische Gruppen auch heute wieder so häufig mit den widerlichsten Vorwürfen, Bildern und Fälschungen für sich werben.

Selbstverständlich versuchten die Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert, auch die antisemitischen Hexenverfolgungen wiederum einer jüdischen Weltverschwörung anzuhängen: Der Reichsführer SS Heinrich Himmler ordnete dazu unter anderem die Anlage einer riesigen „Hexenkartothek“ an.

Wenn Naidoo also den Faschismus den von den Nazis angegriffenen Sozialisten und Sozialdemokraten anhängen will, so war er nicht einmal dabei kreativ.

Die römisch-katholische Kirche widerrief nach dem NS-Holocaust im 2. Vatikanischen Konzil endlich die Gottesmord- und Ritualmordvorwürfe gegen das Judentum, nahm auch die Heiligsprechung von Simon von Trient zurück und ging – leider oft zögerlich – gegen antisemitische Traditionen wie das „Judasfeuer“ vor, das aber bis heute noch vereinzelt in Polen und einigen Teilen Süddeutschlands begangen wird.

Doch die wahnhaften Verschwörungsmythen lebten in pseudo-säkularisierten Gerüchten über weltweite, kindermordende Satanskulte fort. Real aufgeklärte Fälle von Kindesmissbrauch wurden dabei zur Beglaubigung der leider immer noch verharmlosend „Verschwörungs-theorien“ genannten Mythen herangezogen. Echtes Leid von Menschen wird so bis heute für die Verbreitung von Hass instrumentalisiert.

Adrenochrom, ein Stoffwechselprodukt des Adrenalin, wurde ab 1952 klinisch erforscht und trat an die Stelle von Hexensalbe: Pseudo-dokumentarische Filme, die von gefolterten Kindern gewonnenes Adrenochrom als „Superdroge der Eliten“ verkünden, erreichen über YouTube und WhatsApp inzwischen wieder Hunderttausende.

Auch in radikalen Teilen der sogenannten „Israelkritik“ werden die antisemitischen Verschwörungsmythen von Juden als „Kindermördern“ und „Brunnenvergiftern“ weiter tradiert, 2016 sogar im Europäischen Parlament durch Mahmud Abbas.

Längst nicht mehr nur in den USA werden als Beteiligte dieser angeblichen, satanistischen Weltverschwörung neben Juden insbesondere auch demokratische Politikerinnen beschuldigt, vor allem die einstige Gegenkandidatin gegen Donald Trump, Hillary Clinton.

Dass sie real mehr Stimmen erlangte als der Amtsinhaber und entgegen seinen Forderungen bisher auch nicht eingesperrt wurde, erzürnt und bewegt Rechtsesoteriker. Auch ihre deutschen Ableger kommen mit Angela Merkel nicht klar & hoffen ernsthaft auf eine baldige Flucht oder Verhaftung.

Im sogenannten #Pizzagate-Vorfall führten die in Foren und auf Twitter weit verbreiteten Verschwörungsvorwürfe gegen Clinton sogar bereits dazu, dass ein bewaffneter Mann eine Pizzeria in Washington stürmte, weil er dort ein Geheimgefängnis von Kindern vermutete.

Zehntausende, inzwischen auch deutschsprachige Follower des Digitaltrolls „QAnon“ sind inzwischen fest davon überzeugt, dass Donald Trump ein Bringer der Endzeit sei, der gerade mit einer geheimen Gruppe von Patrioten das letzte Aufbäumen der vermeintlichen Weltverschwörung aus Demokratinnen und Juden samt ihrer Hexensalbe „Adrenochrom“ niederschlage.

Und selbstverständlich erkennen diese Verschwörungsgläubigen damit auch wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel und der Covid19-Pandemie nicht an, sondern deuten sie verschwörungsmythisch als Zeichen der kommenden Apokalypse.

Und auch inzwischen zahlreiche, fehlgeschlagene Ankündigungen von „QAnon“ führten nur dazu, dass sich zwar einige abwendeten, andere aber immer weiter radikalisieren. Mehr und mehr Anhängerinnen und Anhänger dieser Bewegung haben Hunderte oder gar Tausende von Stunden in dieser digitalen Wahnwelt verbracht und sich dort gegenseitig bestätigt und aufgehetzt. Einige bezeichnen sie sich auch selbst als „Qultisten“. Von einer auf Fakten basierten Weltsicht entfernen sie sich immer weiter.

Die seit Jahren zunehmend wirren und schrägen „Botschaften“ des Baden-Württembergers Xavier Naidoo kann ich also leider nicht als harmlos oder gar lustig abtun. Hier werden durch einen noch immer prominenten Musiker gewählte Politikerinnen und Politiker, aber auch Wissenschaftler und vor allem jugendliche Aktivistinnen der „Fridays for Future“-Bewegung als Beteiligte einer vermeintlich satanistisch-jüdischen Weltverschwörung beschimpft, die aus dem Foltern von Kindern eine Hexensalbe gewönnen.

Damit angeworben und bestärkt werden Menschen, die zunehmend tatsächlich an eine mörderische Weltverschwörung und deren Apokalypse durch endzeitliche Gewalt glauben. Dass Naidoo bereitwillig auch langjährige Beziehungen opfert und auch Freunde schwer enttäuscht, deutet darauf hin, dass er nicht nur ein Album promotet. Sehr wahrscheinlich glaubt er die hasserfüllten Verschwörungsmythen, die er derzeit verkündet, tatsächlich und wähnt sich auch mitten in Baden im endzeitlichen Kampf gegen das Reich des Satans.

Verschwörungsglauben vergiftet Menschen mit Angst und Hass und kann psychische Probleme verschärfen. Er begünstigt nicht nur extrem irrationales Verhalten, sondern kann – wie zuletzt auch in Hanau geschehen – auch zu Gewaltausbrüchen führen. Selbstverständlich hoffe ich auch für Naidoo und dessen Follower, dass sie irgendwann doch noch den Absprung aus der digitalen Radikalisierung schaffen. Denn dass das absehbare Scheitern und der Zerfall der digitalen QAnon-Wahnwelt überall freundlich und friedlich verlaufen wird, ist nach meiner Einschätzung leider nicht zu erwarten.

In den vergangenen Tagen beobachte ich in den einschlägigen Foren eine rassistische Zuspitzung gegen Muslime. So wird behauptet, die Bundes-Maßnahmen gegen Covid19 seien bewusst bis zum 19. April befristet, um Ausschreitungen von Muslimen zum Ramadan zu verhindern. In Indien, wo bereits mehrere Menschen wegen WhatsApp-Falschnachrichten über vermeintliche Kindesentführungen ermordet wurden, wird massiv der Verschwörungsvorwurf des sogenannten #CoronaJihad verbreitet, wonach Muslime angeblich gezielt das Virus unter Hindus verbreiten würden. Die Annahme von digitalen Verschwörungsmythen hängt nicht an Religionszugehörigkeit oder Hautfarbe, sondern am Niveau der jeweiligen Bildung und Medien, der Regierungsführung und Justiz.

Und so möchte ich nicht meinerseits in Apokalyptik verfallen. Denn wenn selbstverständlich auch jede Person zählt und jede Gewalttat zu verhindern ist: Verglichen mit dem 15. Jahrhundert ist die Anhängerschaft für den menschenverachtenden Verschwörungsglauben gerade auch in Süddeutschland heute marginal. Im Vergleich zur Einführung des Buchdrucks ist heute die Mehrheit der Menschen in Europa gebildet und vernünftig genug, um zwischen guten Wissenschaften und Mythen einerseits und Pseudo-Wissenschaften und Verschwörungsmythen andererseits zu unterscheiden. Nur noch wenige Regime wie Ungarn, Russland und der Iran glauben noch, durch die Verbreitung von Antisemitismus eine Zukunft begründen zu können.

Ich hoffe, dass auch dieser Podcast zur Aufklärung einen kleinen Beitrag leisten und Menschen rechtzeitig erreichen und schützen kann.

Und so möchte ich diese Folge mit einem Zitat von Deborah Lipstadt schließen, die ich zu den Heldinnen unserer Zeit rechne. Als Historikerin kämpft sie seit Jahrzehnten gegen Judenhass und Verschwörungswahn sowie für die Wissenschaft und die Gleichberechtigung von Frauen. Unter anderem besiegte sie den Holocaust-Leugner David Irving vor Gericht.

Ihr Buch „Der neue Antisemitismus“ gegen den digital wieder befeuerten Hass schloss Deborah Lipstadt daher mit einem optimistischen Appell an ihre symbolische, nichtjüdische Studentin Abigail.

Zitat:

„Ihnen und all Ihren Kommilitonen, die zu unterrichten ich das Glück hatte und deren Fragen mich dazu inspiriert haben, das Thema aus vielen verschiedenen Perspektiven zu betrachten, sage ich, mit den Worten aus der Thora: „Seid getrost und unverzagt.“ [5. Mose 31,6] Hören Sie niemals auf, den guten Kampf zu kämpfen, auch wenn Sie sich freuen, Sie selbst zu sein.“ – Zitat Ende –

Quellen:

Behringer, Wolfgang et al. (2003): Der Hexenhammer. Kommentierte Neuübersetzung. dtv (3. überarb. Auflage)

Fidler, Helmut (2011): Jüdisches Leben am Bodensee. Verlag Huber Frauenfeld

Glaser, Stefan & Pfeiffer, Thomas (2013): Erlebniswelt Rechtsextremismus. Bundeszentrale für politische Bildung

Frenschkowski, Marco (2016): Die Hexen. Eine kulturgeschichtliche Analyse. marixwissen

Lipstadt, Deborah (2018): Der neue Antisemitismus. Piper

Neubauer, Luisa & Repenning, Alexander (2019): Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft. Tropen

Landtag BW (2019): 1. Bericht des Beauftragten gegen Antisemitismus, mit Handlungsempfehlungen. Drucksache 16/6487 (online frei)

RIAS Bayern (2020): Das Judasfeuer – Ein antisemitischer Osterbrauch in Bayern. Bayerischer Jugendring (online frei)

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