Der Dokumentarfilm „Lievalleen“ erzählt das Schicksal der Geschwister Beate und Peter. Stellvertretend erzählen sie von den Qualen vieler Kinder in der DDR, die in Kinderheimen, Psychiatrien oder Behindertenheimen verwahrt wurden.
„Mir stehen die Tränen in den Augen, man rührt ja alles hoch … Gut geht es einem nicht dabei“, sagt Beate Runge. Sie blieb ihre gesamte Kindheit und Jugend in der Psychiatrie weggesperrt, war in der DDR abgeschrieben, als „nicht entwicklungsfähig“ eingestuft worden. Dennoch hat sie sich bereit erklärt, für den Film ihres Bruders Peter Wawerzinek und des Regisseurs Steffen Sebastian an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren, das Krankenhaus Stralsund West. Bei der Premiere von „Lievallen“ auf dem Filmkunstfest Schwerin 2019 hat sie öffentlich über ihre Vergangenheit gesprochen. Das hat Überwindung gekostet.
Weggesperrt in der DDR: Stigma und Scham bleiben
Mittlerweile tritt Beate Runge als Zeitzeugin bei Veranstaltungen auf. Sie hat anderen Betroffenen, mit denen sie zusammen in der Psychiatrie groß geworden ist, dabei geholfen, Anträge bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe zu stellen, bei der sich Betroffene bis Mitte 2021 melden konnten. Runges Bruder Peter Wawerzinek, von dem sie als Kleinkind getrennt worden war, bewundert seine Schwester dafür, dass sie den Mut aufgebracht hat, in dem Dokumentarfilm „Lievalleen“ auch für andere öffentlich zu sprechen. „Sie wollte das erst nicht. Aus einem einfachen Grund: Sie wollte nicht für jemand gehalten werden, der dort groß geworden ist. Und das kann man ja auch verstehen.“ Burkhard Bley, der stellvertretende Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur für Mecklenburg-Vorpommern kennt die lange Nachwirkung des Stigmas, „weil man das ja auch wirklich schwer erklären kann, dass man als leicht eingeschränkter Mensch Jahrzehnte in eine Nervenklinik eingesperrt ist.“
VIDEO: Lievalleen: Zurückgelassene Kinder in der DDR (6 Min)
Bundesweit mehr als 30.000 Betroffene
Schilderungen von Fixierungen in Netzbetten, Ruhigstellung durch Medikamente, wie von Beate Runge in „Lievalleen“ berichtet, haben die Berater in der Anlaufstelle der Stiftung Anerkennung und Hilfe in Schwerin oft gehört. Auch von Gewalt, harter Arbeit und emotionaler Misshandlung. Zwischen 2017 und Ende Juni 2021 konnten sich Betroffene, die als Kinder und Jugendliche Leid und Unrecht in Behinderteneinrichtungen, Psychiatrien und sonderpädagogischen Einrichtungen erlebt haben, bei der Stiftung anmelden. In Mecklenburg-Vorpommern taten dies 2.088 Menschen, weit mehr als ursprünglich erwartet. Bundesweit meldeten sich 18.400 Betroffene in Westdeutschland und 12.856 in den ostdeutschen Bundesländern. Die Stiftung bot Beratungsgespräche, Hilfen bei der Schicksalsklärung, bei Anträgen für Rentenausgleichszahlungen sowie eine Einmalzahlung zur Abfederung des erlittenen Unrechts.
Tagelang in Dunkelheit fixiert – Versagen des Sozialstaats DDR
Vielen Betroffenen wie Beate Runge konnte vor der Errichtung der Stiftung im Jahr 2017 gar nicht geholfen werden. Burkhard Bley leitete von 2012 bis 2018 die Anlaufstelle für den Nordosten des Fonds „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990“. Schon in den Jahren vor dem Einrichten dieses Fonds meldeten sich immer wieder Menschen im Büro der Landesbeauftragten, für die der Heimkinderfonds gar nicht zuständig war, die aber davon berichteten, sie hätten ihr Kindheit und Jugend ohne jegliche Förderung in Behinderten- und Altenpflegeeinrichtungen oder Psychiatrien verbracht. Unter teils katastrophalen Bedingungen.
„Die erschütterndste Geschichte, die wir gehört haben, ist in einem Behindertenheim aufgefallen“, so Bley. Der Leiter, der das Heim übernommen hatte, berichtete, er habe fünf Menschen im Keller gefunden, von denen er nicht hätte sagen können, wie lange sie dort schon vor sich hin vegetierten. „Die waren im Keller angebunden, kein Tageslicht“, zitiert Bley den Leiter, „und die waren natürlich erst mal überhaupt nicht ansprechbar. Die mussten das Gehen wieder neu lernen.“ Im Grunde, so Bley, habe die DDR im Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft eklatant versagt.
Psychiatrien und Heime: Unterschiede in Ost und West
„DDR-spezifisch ist, dass die Zustände so lange andauerten“, sagt Bley. „Bis zum Ende der DDR, bis 1990 hat sich nichts getan, es wurde fast nichts investiert.“ Auch das Personal in den Einrichtungen habe unter Baumängeln, materieller Not, Überbelegung und mangelnder Qualifikation gelitten. Die Zustände in Kinderheimen ebenso wie in Psychiatrien, sonderpädagogischen Einrichtungen und solchen der Behindertenhilfe seien unmittelbar nach Kriegsende in Ost und West zunächst vergleichbar gewesen. Jahrzehnte später berichten Betroffene über das dort Erlebte, jüngst über Gewalterfahrungen und Misshandlungen im Zuge von Verschickungen. Doch im Gegensatz zur DDR habe es in der alten Bundesrepublik seit spätestens Mitte der 1970er-Jahre Reformen gegeben. Weg von der Hospitalisierung hin zu alternativen Betreuungsformen und Förderung.
Frappierend sei zudem, so Burkhard Bley, dass Kinder wie Beate Runge in der DDR staatlich eingruppiert wurden. „Nicht bildungsfähig“: Wer diesen Stempel einmal aufgedrückt bekommen hatte, sei von jeglicher Entwicklungsmöglichkeit ausgeschlossen geblieben.
Lange gab es Hilfen nur für Heimkinder
Während es für Leidtragende der DDR-Heimerziehung – insbesondere in Spezial-Kinderheimen oder Jugendwerkhöfen, in denen Kinder und Jugendliche umerzogen werden sollten – mit dem Fonds Heimerziehung seit 2012 Unterstützung gab, dauerte es noch weitere fünf Jahre, bis die Stiftung Anerkennung und Hilfe ihre Arbeit aufnehmen konnte. Für knapp 100 Betroffene, die bis dahin Hilfe im Büro der Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED Diktatur in Mecklenburg-Vorpommern gesucht hatten, gab es endlich auch eine Anlaufstelle. „Lange war das ja gar nicht bekannt“, so Burkhard Bley. Und auch die wissenschaftliche Aufarbeitung steckte zu diesem Zeitpunkt noch in den Kinderschuhen. Politisch sei vor allem die staatliche Entscheidung gewesen, Kinder nicht adäquat zu fördern.https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/lievalleenbley100-ardplayer_image-bc858299-2f42-458a-b6eb-076fe06d1e0c_theme-ndrde.html
VIDEO: Burkhard Bley: „Das ist wie ein Verrat“ (4 Min)
Zurückgelassene und getrennte Kinder durch Flucht aus DDR
Beate Runge und ihr Bruder Peter Wawerzinek wurden 1957 als Kleinkinder von ihren Eltern 1957 allein in Rostock zurückgelassen – die Eltern flohen in den Westen. Vereinzelt habe es solche Fälle vor dem Mauerbau 1961 gegeben, sagt Bley, ebenso wie in den Wochen vor und nach dem Mauerfall im November 1989. „Wir haben es nicht beziffert, das sind vielleicht 20, 30 Fälle“, schätzt Bley für das heutige Mecklenburg-Vorpommern. Er weiß aber auch, dass insbesondere Geschwister, die wegen Vernachlässigung oder Kindeswohlgefährdung in der DDR aus den Familien genommen wurden, oft getrennt wurden. „Verwandtschaftliche Bindungen spielten in der Heimerziehung keine Rolle“, das habe schwerwiegende Folgen gehabt. In vielen Fällen sei es dann gelungen, den Kontakt zwischen Geschwistern nach Jahrzehnten wieder herzustellen.
„Begegnungen, die sonst nie zustande gekommen wären“
Nach einer Kindheit in der Psychiatrie kommt es Beate Runge heute wie ein Märchen vor, dass sie noch Geschwister hat.
Ihre Halbschwester Antje Jurgeleit haben Beate Runge und ihr Bruder Peter Wawerzinek erst vor Kurzem kennengelernt. Sie hat den gleichen Vater, wie die beiden in der DDR zurückgelassenen Geschwister. Runge hat mit ihr zusammen noch ein weiteres Mal das Krankenhaus ihrer Kindheit besucht, Jurgeleit zeigt sich erschüttert: „Ich hab keine Vorstellung davon, wie schlimm das ist.“ Für Wawerzinek hat sich der Film „Lievalleen“ allein aus diesem Grund gelohnt: „dass durch den Film Begegnungen stattfinden, die sonst nie zustande gekommen wären.“ Und Beate Runge, die bis zu ihrem 18. Geburtstag in der Psychiatrie eingesperrt war, kommt es wie ein Märchen vor, dass sie doch Geschwister hat.