Um 1900 ist das Wahlrecht in Hamburg alles andere als demokratisch. Die Wohlhabenden bestimmen die Politik und versuchen, die kleinen Leute von der Macht fernzuhalten. Wählen dürfen nur Bürger mit einem Einkommen von mehr als 1.200 Mark im Jahr, Grundbesitzer und Notabeln, also Bürger mit einem Ehrenamt wie etwa Handelsrichter. Sie machen zusammen ganze vier Prozent der Bevölkerung aus.Der Senat fürchtet Anfang des 20. Jahrhunderts einen zunehmenden Einfluss der SPD und will deshalb das Wahlrecht einschränken.
Als die SPD mit Otto Stolten und 13 weiteren Abgeordneten 1904 in die Bürgerschaft einzieht, sehen die Honoratioren die „ungestörte Fortentwicklung des Hamburgischen Staatswesens“ bedroht. Die Bürger befürchten Unruhen, Umsturz gar. Deshalb setzt der Senat eine Kommission ein, die prüfen soll, wie „einem übermäßigen Eindringen sozialdemokratischer Elemente in der Bürgerschaft vorgebeugt werden könnte“. Denn wenn die SPD weiter zulegt, kann sie Verfassungsänderungen, die eine Dreiviertelmehrheit erfordern, blockieren.
Generalstreik gegen „Wahlrechtsraub“
Das will der Senat auf keinen Fall zulassen und plant eine Verschärfung des Wahlrechts: Für einen Teil der Wahlberechtigten soll die Einkommensgrenze drastisch auf 2.500 Mark erhöht werden. So soll verhindert werden, „dass die politische Macht immer mehr und mehr auf die nichtbesitzenden Klassen übergeht“, wie es der Senat ausdrückt.
Diesen „Wahlrechtsraub“ will die SPD nicht hinnehmen und ruft zum ersten politischen Generalstreik in Deutschland auf. Am Nachmittag des 17. Januar 1906 legen rund 80.000 Arbeiter in den Fabriken, auf den Werften und Baustellen die Arbeit nieder und ziehen zu Versammlungsorten überall in der Stadt.
Die Kundgebungen sollen nach dem Willen der Partei friedlich verlaufen. Doch die ergrimmten Ewerführer, Gipser, Kesselreiniger, Schauerleute, Schlosser, Zigarrenmacher, Maurer und anderen Arbeiter wollen endlich Taten sehen. Animiert durch warmes Wetter und durch Bier, das bei den Versammlungen in großen Mengen konsumiert wird, marschieren sie gegen Abend zum Rathaus, wo die Bürgerschaft gerade über das neue Wahlgesetz debattiert. Die Parteiführer können sie nicht zurückhalten.
Demonstration vor der Bürgerschaft
Die Polizei hat inzwischen die Zugänge zum Rathausmarkt mit einem Großaufgebot von rund 250 Beamten abgeriegelt. Zwischen Petrikirche und Jungfernstieg versammeln sich gegen 18.30 Uhr Zehntausende Demonstranten. Sie singen und hören Rednern zu. Die vorderen Gruppen reizen die Polizisten auch mit Beleidigungen, bewerfen sie immer wieder mit Flaschen und Steinen. Als der Ansturm auf die Polizeiketten gegen 20 Uhr zu stark wird, befiehlt der kommandierende Polizeimajor, die Rathausstraße zu räumen. Berittene Polizisten und Beamte mit gezogenem Säbel treiben die Arbeiter zurück.
Straßenkampf im Gängeviertel
Im Gängeviertel, wo die Menschen um 1900 auf engstem Raum leben, kommt es zu einem Straßenkampf.
Unter dem Druck der Polizei verlagert sich das Zentrum der Unruhen in das Gängeviertel zwischen Schopenstehl und Steinstraße. Arbeiter errichten Barrikaden, bewerfen mit herausgerissenen Straßenbahnschienen und Abfalleimern die Polizisten. Säbel blitzen im Licht der Gaslaternen, Menschen schreien, die Arbeitermarseillaise erklingt, ein altes Kampflied. Als die Polizei plötzlich abrückt, um das durch ihren Vormarsch ungeschützte Rathaus zu sichern, beruhigt sich die Lage für einen Moment. Ordnern der SPD gelingt es jetzt anscheinend auch, viele Demonstranten nach Hause zu schicken.
Doch dann beginnt die zweite, blutigere Phase. Aufrührer werfen die Laternen mit Steinen aus. Schaufensterscheiben gehen zu Bruch, Auslagen werden geplündert. Ein Juwelier berichtet später: „Sobald das Fenster zertrümmert und die Eisenstangen abgebrochen waren, griffen gierige Finger nach den Uhren und Goldwaren aus der Auslage.“ In der Brandstwiete entfachen Arbeiter Freudenfeuer, vertreiben die Feuerwehr mit Flaschen und Steinen. Als die Unruhen um 23 Uhr unvermindert andauern, marschiert die Polizei erneut in voller Stärke auf.
Die Polizei geht brutal vor
Die Beamten sind nach stundenlangem Straßenkampf erschöpft, müde und wütend. Mit äußerster Brutalität schlagen sie jetzt zu, sprengen zu Pferd Gruppen auseinander, greifen einzelne Passanten mit dem Säbel an, dringen in Gastwirtschaften ein und treiben auch Unbeteiligte mit Hieben auf die Straße. Es gibt zahlreiche Verletzte und sogar Tote. Blutende Männer, Frauen und Kinder fliehen durch die Straßen. Polizisten wüten nun selbst gegen Wehrlose, schlagen einem zehnjährigen Jungen die Fingerspitzen ab, reißen einen jungen Arbeiter zu Boden, treten und beschimpfen ihn. Er stirbt später an einem Säbelhieb, der ihm den Hinterkopf zerschmettert hat. Notärzte und Apotheker versorgen die Verwundeten. Erst gegen 1.30 Uhr ist die Schlacht vorbei.
Am nächsten Morgen ist die Stadt verändert
Polizei und konservative Presse geißeln die angeblichen Umsturzversuche. Die SPD hingegen behauptet, die Polizei habe kriminelle Bewohner des Gängeviertels zu Exzessen aufgestachelt, um den Behörden eine Handhabe gegen die Partei zu liefern. Die meisten Arbeiter werden von den Fabrikanten ausgesperrt, was Lohneinbußen bedeutet. Ein Versammlungsverbot ergeht, außerdem müssen die Kneipen im verrufenen Gängeviertel schon nachmittags schließen. Dann werden Verdächtige verhaftet, vor allem Männer mit verbundenen Armen und Köpfen. Verurteilt werden aber nur rund 30 Arbeiter, darunter auch polizeibekannte Diebe. Einer gibt sogar zu, 13 Ohrringe, sechs Ketten und zwei goldene Uhren aus einem Schaufenster am Schopenstehl gestohlen zu haben.
Demokratische Wahlen erst nach der Revolution
Der Sozialdemokrat Otto Stolten wird 1901 Mitglied der Bürgerschaft und 1919 Zweiter Bürgermeister.
Hamburger Kaufleute wie Albert Ballin rufen unterdessen zu Spenden für die Polizei auf, weil sie sie gegen „sozialdemokratische Umtriebe“ verteidigt habe. Innerhalb von 14 Tagen kommen mehr als 13.000 Mark zusammen. Und der Senat sieht sich bestärkt, die Wahlrechtsänderung weiter voranzutreiben. Ende Januar 1906 beschließt die Bürgerschaft mit großer Mehrheit das neue Gesetz, das die politische Ungleichheit verschärft und dafür sorgt, dass das Großbürgertum noch einige Jahre unter sich bleiben kann. Erst im März 1919, nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution, dürfen in Hamburg alle Männer und Frauen die Abgeordneten der Bürgerschaft wählen. Jetzt erringt die SPD die absolute Mehrheit, und der Sozialdemokrat Otto Stolten wird Zweiter Bürgermeister der Hansestadt.