Die scheidende Bundesregierung ist an einer Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung interessiert. Auch Messenger sollen überwacht werden.
Die scheidende Bundesregierung unterstützt die Pläne zu einer Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene in bisher unbekanntem Maße. Das berichtet der Spiegel und beruft sich auf ein Positionspapier der Großen Koalition für die entsprechenden Beratungen auf EU-Ebene. Hier ist die Große Koalition weiter federführend, bis sich eine neue Bundesregierung gebildet hat.
In dem als geheim eingestuften Dokument setzt sich die Große Koalition nicht nur für die Wiedereinführung einer EU-weiten Vorratsdatenspeicherung ein, sondern auch für eine Ausweitung auf Videotelefonie und Messengerdienste wie Whatsapp, Threema, Signal oder Telegram. Man komme zu dem Ergebnis, „dass der europaweite Ansatz nicht aufgegeben werden sollte“, heißt es in dem Dokument, und sei dafür, den inhaltlichen „Ansatz der Kommission aufzugreifen“.
Zudem soll laut dem Dokument der Großen Koalition „die Identifizierung von Internetnutzern“ ermöglicht werden. Dazu „ist es erforderlich, nicht nur die IP-Adresse, sondern auch den Zeitstempel und, wo einschlägig, die zugewiesene Portnummer zu speichern“. Auch die Erfassung von Standortdaten sowie Metadaten von E-Mails, Telefonanrufen und SMS ist demnach geplant.
Ausnahmen zur Vorratsdatenspeicherung sollen zur Regel werden
Zum „Schutz der nationalen Sicherheit“ solle die Speicherung auch flächendeckend zugelassen werden. Damit versucht die Große Koalition eine erst kürzlich vom EuGH erlaubte Ausnahme vom generellen Verbot einer Vorratsdatenspeicherung, nämlich eine zeitlich begrenzte Erfassung bei einer schweren Gefahr für die nationale Sicherheit, auszuweiten und zur Regel zu machen.
Die Große Koalition äußert in ihrem Papier die Hoffnung, dass der EuGH seine Rechtsprechung weiter aufweicht. Die EU-Kommission geht sogar davon aus, dass Daten an Orten „überdurchschnittlicher Kriminalität“ auf Vorrat gespeichert werden dürften, ebenso die Kommunikation und Bewegungen der Menschen in „wohlhabenden Wohngebieten“, Kirchen, Schulen, Einkaufszentren und sogar die von Demonstrationsteilnehmern.
Damit gehen Kommission und Bundesregierung weit über die ursprüngliche europäische Vorratsdatenspeicherung hinaus, die im Jahr 2014 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) kassiert wurde. Die deutsche Umsetzung der Richtlinie wurde bereits 2010 vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt, da sie über die europäischen Regelungen hinausging und gegen die Grundrechte verstoßen hatte.
Eine 2015 von der Großen Koalition erneut eingeführte Vorratsdatenspeicherung wurde nach einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster ausgesetzt und später vom Bundesverwaltungsgericht dem EuGH zur Prüfung vorgelegt. Eine Entscheidung des Gerichtes steht noch aus.
Zivilgesellschaft forder Ende der schädlichsten Altlast der Großen Koalition
Patrick Breyer, der für die Piratenpartei im Europaparlament sitzt, kritisiert die Haltung der geschäftsführenden Bundesregierung. „Diese Pläne der EU-Kommission könnten Millionen unschuldiger Menschen betreffen“. Touristen und Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel würden „unter Generalverdacht gestellt“, wenn ihre Daten künftig an bestimmten Orten pauschal auf Vorrat gespeichert werden könnten; in Parlamenten würden Abgeordnete total erfasst, in Gerichten das Anwaltsgeheimnis verletzt.
Für die größte Gefahr hält Breyer die Speicherung von IP-Adressen auf Vorrat, „die es dem Staat ermöglichen würde, die private Internetnutzung von Normalbürgern auf Monate hinaus zu durchleuchten und Pseudonyme aufzuheben“. Gerade die IP-Adressen seien besonders anfällig für falschen Verdacht, etwa im Fall öffentlicher WLANs. Straftäter können diese Totalerfassung mit Anonymisierungsdiensten leicht umgehen, aber den Normalnutzer würde sie gläsern machen.
Die von der Bundesregierung unterstützte Datenspeicherung und Zwangsidentifizierung für Messengerdienste oder Videotelefonie gehe selbst über die für nichtig erklärte EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und auch über entsprechende nationale Gesetze weit hinaus, sagte Breyer: „Das droht wirklich jeden vertraulichen Kontakt zu treffen“.
Auch ein Zusammenschluss von elf Bürgerrechts- und Berufsverbänden fordert ein Ende der Vorratsspeicherung. Diese sei die „schädlichste Altlast der Großen Koalition“ und „die am tiefsten in die alltägliche Privatsphäre eingreifende und unpopulärste Massenüberwachungsmaßnahme, die der Staat jemals hervorgebracht hat“, heißt es in einem offenen Brief anlässlich der Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP.