Die Regierung verschärft nach dem Attentat von Solingen nicht nur das Waffenrecht. Umstrittene Verfahren zur Gesichtserkennung sollen zulässig werden.
Was im Falle von untergetauchten RAF-Terroristen noch nicht möglich war, will die Bundesregierung künftig den Ermittlungsbehörden erlauben. Als Reaktion auf das Messerattentat von Solingen soll die Polizei künftig die Fotos von Verdächtigen mit „allgemein öffentlich zugänglichen Internetdaten“ abgleichen dürfen, „um die Identifizierung von Tatverdächtigen oder gesuchten Personen zu erleichtern“. Das teilten das Innenministerium, das Justizministerium und das Bundeswirtschaftsministerium am 29. August 2024 gemeinsam mit.
Darüber hinaus soll die automatisierte Analyse polizeilicher Daten durch das Bundeskriminalamt (BKA) und die Bundespolizei künftig durch künstliche Intelligenz (KI) unterstützt werden dürfen, „ebenso das Testen und Trainieren von Daten für KI-Anwendungen als begleitende Vorschrift für die Datenanalyse“. Dabei sollen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, des europäischen Datenschutzrechts und der neuen KI-Verordnung beachtet werden.
Zudem fordert die Bundesregierung eine Verschärfung des Digital Services Act (DSA) auf EU-Ebene. Durch das Benennen konkreter Straftatbestände wie das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen und Volksverhetzung solle „eine konsequente Bekämpfung strafrechtlicher Inhalte auf Online-Plattformen“ ermöglicht werden. Bislang nennt der DSA keine konkreten Straftatbestände, sondern spricht lediglich allgemein von illegalen Inhalten, die sich je nach EU-Mitgliedstaat unterscheiden können.
Gesetzesänderung erforderlich
Derzeit dürfen Ermittlungsbehörden öffentlich zugängliche Fotos, wie sie beispielsweise die Gesichtsdatenbanken Clearview oder Pimeyes enthalten, nicht für die Suche nach Verdächtigen verwenden. Im Falle der früheren RAF-Terroristin Daniela Klette konnte ein Journalist die in Berlin untergetauchte Frau mithilfe von Pimeyes problemlos aufspüren, was Ermittlungsbehörden jahrelang nicht gelungen war.
Nach Einschätzung von Juristen ist die Nutzung solcher Datenbanken den Behörden nicht möglich, da die Sammlungen ohne die Zustimmung der abgebildeten Personen aufgebaut wurden. Inwieweit die Behörden selbst eine solche Datenbank aufbauen dürfen, ist unklar. Der Mitteilung zufolge sollen die Ermittlungsbehörden die Vorgaben der KI-Verordnung und des Datenschutzrechts einhalten.
In einer Analyse (Paywall) kommen die Verwaltungsjuristen Mario Martini und Carolin Kemper jedoch zum Schluss: „So wie es Polizeibehörden selbst versagt wäre, im Schleppnetzstil Gesichtsbilder zu sammeln und diese zur Identifizierung zu verwenden, dürfen sie dies nicht über die Hintertreppe der Zwischenschaltung privater Akteure wie Clearview AI.“ Die Ergebnisse dieser unzulässigen Datenverarbeitung seien ebenfalls rechtswidrig.
Polizeiliche Datenbanken deutlich kleiner
Die Verarbeitung biometrischer Daten ist in Deutschland beispielsweise in Paragraf 48 des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) geregelt. Demnach ist die Verarbeitung nur zulässig, „wenn sie zur Aufgabenerfüllung unbedingt erforderlich ist“. Zudem nennt der Paragraf acht besondere Garantien, um die Rechte der Betroffenen zu schützen. Dazu zählen beispielsweise „spezifische Anforderungen an die Datensicherheit oder die Datenschutzkontrolle“. Solche Vorgaben führen dazu, dass die bestehenden Gesichtsdatenbanken der Polizeibehörden deutlich kleiner als die von Clearview sind.
So hieß es Anfang des Jahres 2020, dass in den Datenbanken der deutschen Sicherheitsbehörden mehr als 5,8 Millionen Gesichtsbilder gespeichert seien. Im ersten Halbjahr 2019 wurde demnach das Gesichtserkennungssystem (GES) des Bundeskriminalamts (BKA) 23.915-mal angefragt. Damit ist die Datenbank deutlich kleiner als diejenige der kommerziellen Anbieter. Clearview kündigte vor zwei Jahren sogar an, „fast jeden auf der Welt“ identifizieren zu wollen.
Nachtrag vom 29. August 2024, 18:21 Uhr
Die Grünen-Politikerin Anja Hajduk, Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium, begründete die Schaffung der neuen Befugnis bei der Vorstellung der Pläne (Video ab 22:08) jedoch mit den Worten: „Es ist ein gewisser Anachronismus, dass das bislang nicht erlaubt war. Insofern ist das eine wichtige und äußerst zeitgemäße Regelung, die wir da einführen.“